Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
Kerstin Köditz zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15.01.2025:
»Wir alle kennen das berühmte Zitat des italienischen kommunistischen Philosophen Antonio Gramsci: «Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren.
Es ist die Zeit der Monster.»
Er schrieb dies im Jahr 1930, im Gefängnis.
Diese Monster sind ein Kennzeichen des, wie er es nennt, „Interregnums“, einer Zeitspanne zwischen unterschiedlichen Herrschaftsformen.
Ein solches Monster war der Faschismus, der ihn ins Gefängnis geworfen hatte.
In diesem Interregnum gibt es sogenannte „Kipppunkte“.
An ihnen entscheidet sich, in welche Richtung die Entwicklung verläuft.
Die Nachkriegskrise, die auf den Ersten Weltkrieg folgte, zeigte deutlich, dass die alte Welt der Monarchien im Sterben lag.
Für die Entwicklung des Kapitalismus war sie dysfunktional geworden.
Die Kräfte der Beharrung waren nicht mehr stark genug, ihre Herrschaft ungebrochen zu behaupten.
In Deutschland zeigte die Novemberrevolution, dass die neue Welt, die auf ihre Geburt wartete, der Meinung sehr vieler Menschen nach eine demokratische und sozialistische sein sollte.
Die Angst vor der drohenden Niederlage mobilisierte Monster, die Konterrevolution und ihre Söldner. Ihnen fielen am 15. Januar 1919 Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Opfer. Es waren Freikorps-Leute, Söldner der Konterrevolution, personifizierte Monster, die sie umbrachten.
Die Herrschaft der deutschen Spielart des Faschismus begann erst 14 Jahre später,
im Jahr 1933 mit der Machtübertragung an Hitler, der zunächst – das muss erwähnt werden – im Bündnis mit bourgeoisen und konservativen Kräften regierte.
14 Jahre nur dauerte es vom revolutionären Aufbruch der Jahre 1918/19 bis zur bitteren und blutigen Niederlage aller demokratischen Kräfte im Jahr 1933.
Es wäre allerdings falsch und verhängnisvoll, den Faschismus auf die Zeit seiner Herrschaft vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 zu reduzieren.
Faschismus beginnt nicht mit einem einzigen Akt wie der Ernennung zum Reichskanzler.
Es ist wichtig, die Vorgeschichte zu analysieren, die diesen Akt erst ermöglicht hat.
Diese Analyse ist unverzichtbar, wenn man ein neues 1933 verhindern will.
Auch die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs gehört zu dieser Vorgeschichte.
Sie stellte einen erheblichen Rückschlag für die revolutionären Kräfte dar, die den Kampf für Gleichheit führten.
Ja, für Gleichheit!
Nicht etwa für eine ominöse „soziale Gerechtigkeit“, nicht für unsinnige Forderungen wie die nach „guter Arbeit“, nicht für verschleiernde Parolen wie „Sozial ist, was Arbeit schafft“.
Sondern für Gleichheit!
Rosa Luxemburg fasste es ebenso kurz wie prägnant in Worte:
„Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung.
Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung.
Ohne Sozialismus keine Demokratie
und ohne Demokratie kein Sozialismus.“
Diese drei Sätze sind ein komplettes politisches Programm.
Sie lassen keinen Spielraum für Reformismus.
Und sie lassen zugleich keinen Spielraum für das Konzept einer Avantgardepartei.
Auch mit diesen Vorstellungen stand Rosa Luxemburg dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci sehr nahe.
Es waren die Gegner der Gleichheit, die Liebknecht, Luxemburg, Gramsci zum Schweigen brachten.
Die Weimarer Republik war zweifellos eine Phase harter Klassenauseinandersetzungen.
Es war eine Zeit, in der die Kräfte der Gleichheit immer weiter in die Defensive gedrängt wurden.
Es war eine Zeit, in der Demokratie immer weiter abgebaut wurde.
Was mit dem Traum von einer Räterepublik mit einer umfassenden Beteiligung aller
an den Angelegenheiten aller begann, führte zu den Brüning‘schen Notverordnungen
der Regierung am Parlament vorbei und zu der Querfrontkonzeption des Generals von Schleicher, der eine Militärdiktatur mit Massenbasis anstrebte.
Weder Freiheit, noch Gleichheit.
Stattdessen Ausbeutung und Unterdrückung.
Man war bereits weit vorangekommen auf dem Weg zum Faschismus.
Der heutige marxistische Theoretiker Mario Candeias bezeichnet diesen Prozess
der autoritären Umgestaltung der Demokratie als „Faschisierung“.
In ihm gibt es „Kipppunkte“, die diesen Prozess beschleunigen, „autoritäre Kipppunkte“.
Candeias beschreibt „Faschisierung“ als „ein Phänomen des misslingenden Übergangs
zu einer neuen Periode kapitalistischer Entwicklung nach dem Interregnum.“
Der Neoliberalismus ist zunehmend dysfunktional für die aktuelle Etappe des Kapitalismus.
Dem „grünen Kapitalismus“ als Alternativmodell fehlt die Durchsetzungskraft.
Linke – selbst reformistische – Ansätze sind marginalisiert.
Gleichzeitig erstarken Kräfte wie die AfD, die sich in diesem Prozess zu faschistischen Formationen gewandelt haben.
Und mit dem Anwachsen der AfD erfolgt ein Aufschwung militanter und terroristischer rechter Gruppen.
Unter dem Label „Faschisierung von Staat und Gesellschaft“ wurde dieser Analyseansatz von einer kleinen linken Organisation, dem Kommunistischen Bund, in den siebziger Jahren in der alten Bundesrepublik entwickelt.
Die Aufbruchseuphorie der Jahre um 1968 war vorüber, die – zaghafte – Reformpolitik der sozialliberalen Koalition versandete spätestens mit dem Rücktritt von Willy Brandt als Bundeskanzler.
Stattdessen die Politik der Berufsverbote, Ausbau des Repressionsapparates, neue Sicherheitsgesetze unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung.
All dies stärkte die Annahme, der Umbau der Demokratie in einen autoritären Staat
könne auch ohne faschistische Massenpartei mit den Mitteln und Möglichkeiten der Demokratie erfolgen.
Zwar war die NPD im galoppierenden Verfall, doch mit Franz Josef Strauß bot sich jemand als autoritäre Führerfigur an, der aus der „Mitte der Gesellschaft“ kam.
Der heute gebräuchliche Begriff „Faschisierung“ ist ausgearbeiteter und analytisch schärfer.
Sein Vorteil liegt zweifellos darin, dass er unsere Aufmerksamkeit auf Prozesse und Dynamiken innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft richtet.
Er sieht Faschismus nicht als Herrschaftssystem, er verortet ihn nicht außerhalb unserer Gesellschaft.
Er richtet unsere Aufmerksamkeit auf jene „autoritären Kipppunkte“, die diesen Prozess vorantreiben und beschleunigen.
Er richtet den Blick sowohl auf den Bereich des Politischen wie auch auf den der Ökonomie.
Mario Candeias selbst schreibt:
„Statt von mehr oder minder festgefügten Definitionen eines Faschismusbegriffs geht es bei der Faschisierung um eine spezifische Artikulation ideologischer Elemente, die mehr und mehr Wirksamkeit entfaltet, indem sie intersubjektiv konsolidierte Erfahrung und Wissen zersetzen und das Denken und Fühlen dabei selbst herrschaftlich transformieren.“
Das hört sich zunächst kompliziert an.
Aber wenn wir uns beispielsweise die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen anschauen, wird deutlich, wie dieses „Erfahrung und Wissen zersetzen“ funktioniert,
wie es zum Teil des Faschisierungsprozesses wird.
Die Faschismustheorien und viele Wissenschaftler*innen wie auch Politiker*innen und Aktivist*innen fragten bei Trump, ob das schon Faschismus sei, dann ob man Meloni faschistisch nennen könne, ob die AfD denn tatsächlich faschistisch sei.
Oft wurde dabei vergessen, dass Faschismus heute keineswegs in dem gleichen
oder auch nur ähnlichen Gewand wie vor hundert Jahren, mit Schaftstiefeln und Hitler-Gruß, sichtbar werden muss.
Jede Bewegung, die sich nicht modernisiert, ist zum Untergang verurteilt.
Nostalgie verurteilt zur Wirkungslosigkeit.
Der Faschisierungsansatz dagegen trägt den Worten des italienischen Holocaust-Überlebenden Primo Levi Rechnung, der bereits 1974 erklärte:
„Jede Zeit hat ihren eigenen Faschismus.“
Doch wie dieser auch jeweils konkret aussieht, es ist Rosa Luxemburg, die uns damals den strategischen Ansatz zur Bekämpfung des Faschismus lieferte, der auch heute noch gültig ist:
„Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung.
Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung.
Ohne Sozialismus keine Demokratie
und ohne Demokratie kein Sozialismus.“
Für mich heißt das auch:
Eine „antifaschistische Wirtschaftspolitik“ ist keine antifaschistische Wirtschaftspolitik,
wenn sie nicht eng verzahnt mit dem Kampf um Demokratie ist. Beides muss gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Dann werden wir Rosa Luxemburg gerecht.
Dann besteht zumindest die Möglichkeit, die Monster zu besiegen.
Gemeinsam!
Und solidarisch!«